Staatliches Gesundheitssystem: Nur Verlierer durch die Bürgerversicherung

Staatliches Gesundheitssystem:

Nur Verlierer durch die Bürgerversicherung

03.02.2018 – Wer kommt zuerst? Privatpatienten bekommen oft schneller einen Termin beim Facharzt. Doch ändert sich das wirklich durch eine Bürgerversicherung?

Außer Ideologen profitiert niemand von der Bürgerversicherung. Im Gegenteil: Sie würde regelrechte Schockwellen auslösen. Ein Kommentar.

In Großbritannien hat der Nationale Gesundheitsdienst NHS zum Jahresende angekündigt, dass Patienten wegen Kapazitätsengpässen später als geplant operiert werden. Die Rede ist von 50.000 bis Ende Januar verschobenen Operationen. Zur gleichen Zeit, in der der für seine miserablen Leistungen bekannte staatliche britische Gesundheitsdienst seinem Namen wieder keine Ehre macht, wirbt die SPDhierzulande dafür, das Gesundheitssystem in eine staatliche Einheitsversicherung umzuwandeln.

Wenn das Versagen staatlicher Einheitssysteme so offenkundig ist, bleibt eine Generation seit dem Zusammenbruch des einen sozialistischen deutschen Staates die Frage: Wer würde von einer Bürgerversicherung profitieren, außer jenen Ideologen, die ihr Herzblut in die angeblich gerechtere Bürgerversicherung investieren? Die Antwort lautet: niemand.

Wird die Versicherung wirklich „gerechter“?

Vier Wahlkämpfe hat die SPD mit der Forderung nach Einführung einer Bürgerversicherung bestritten. Zweimal hat sie danach mit der Union regiert. Der privaten Krankenvollversicherung, die die Sozialdemokraten so dringend abschaffen wollen, hat das wenig Abbruch getan. Warum sollte es jetzt anders sein, wenn die geschrumpfte SPD unter Parteichef Martin Schulz allen anderen Bekundungen zum Trotz jetzt lieber doch mit Angela Merkel weiterregieren will? Indes kommt die Idee der Bürgerversicherung bei den Wählern gut an. Da mag es überraschen, dass Merkel hier noch nicht zugegriffen hat. Sie lässt es hoffentlich auch bleiben.

Die Bürgerversicherung wird als Gerechtigkeitsprojekt verkauft. Gerechter soll es bei der Finanzierung und bei den Leistungen zugehen. Doch bei Lichte besehen, ist es mit den Versprechen nicht weit her. Von der „gerechteren Finanzierung“ jedenfalls, also der Ausweitung der Bemessungsgrundlage, hat die SPD sich schon wieder verabschiedet. Mieten, Pachten und Kapitalerträge wolle man nicht zur Krankenversicherung heranziehen, die Kasse sei ja kein Finanzamt, heißt es nun. Auch die Einkommensgrenze, bis zu der die Kassenbeiträge fällig werde, solle bleiben, wo sie ist – zumindest fürs Erste. Denn aktuell braucht die Sozialversicherung nicht mehr Geld. Das unterscheidet die Debatte heute von der in den Anfangstagen des Projektes Mitte des vergangenen Jahrzehnts, als man sich an dem vermutlich verfassungswidrigen Projekt berauschte, der gesetzlichen Versicherung die Rücklagen der Privatversicherung in dreistelliger Milliardenhöhe einzuverleiben. „Gerechter“, wie behauptet, weil sie stärker auf alle Einnahmen und nicht nur auf jene aus Arbeit abstellt, wird die Finanzierung der Kassen durch die SPD-Pläne also nicht.

Ein neue Zwei-Klassen-Medizin

Eine große Lücke klafft auch in der anderen Gerechtigkeitsbaustelle, dem Versprechen nach gleichem Zugang zu ärztlichen Leistungen. Niemand zweifelt im Kern daran, dass Ärzte Kassenpatienten so gut versorgen wie Privatversicherte. Allerdings bekommen Privatkunden oft leichter einen Termin beim Facharzt. Die Einheitsversicherung oder auch nur die einheitliche Bezahlung der Ärzte änderte daran aber wenig. Wie lange würde es wohl dauern, bis Zusatzversicherungen auf den Markt kämen, die den Wohlhabenden erlaubten, ihren Arzttermin bevorzugt zu buchen?

Nichts hilft auch das paternalistische Argument vom schutzbedürftigen Privatpatienten, der vor dem diagnostischen Übereifer geldgieriger Ärzte zu bewahren sei. Ob dem Patienten die quasi-staatlichen Therapievorgaben eines weitab tagenden Bundesausschusses lieber sind als seine Autonomie gegenüber einem Behandler, dem er vertraut? Wohl kaum. So befördert die Bürgerversicherung das mit Macht, was sie zu verhindern vorgibt: die Zwei-Klassen-Medizin.

Andere Herausforderungen sind wichtiger

Es bedarf keiner Glaskugel, um die Schockwellen zu erahnen, die der ernsthafte Versuch auslöste, das Versicherungssystem entsprechend umzukrempeln. Große Teile der Ärzteschaft wären verunsichert, viele würden protestieren – auch aus Sorge um die Einnahmen von den Privatpatienten. Die Stabilität des Gesundheitssystems geriete in Gefahr. Krankenkassen sorgen sich schon davor, dass bei einer Öffnung der Privatversicherung zuerst die „schlechten Risiken“ – teure Kunden mit beitragsfreien Kindern oder chronischen Erkrankungen – kämen und Löcher in die Kassen rissen. Schon warnt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vor dem Verlust Tausender Arbeitsplätze in der Privatversicherung. Auf Jahre hätten Gerichte darüber zu urteilen, ob das gesellschaftspolitische Großprojekt Bürgerversicherung mit der Verfassung zu vereinbaren sei. Die Ministerialbürokratie wäre mit Arbeit zugeschüttet.

Als gäbe es keine dringenderen Aufgaben im überteuerten deutschen Gesundheitssystem, das über viel zu viele Krankenhäuser verfügt, das zu wenig Pflegekräfte hat, das seine Ärzte nicht dort ansiedelt, wo sie benötigt werden, das eine gewaltige Bürokratie unterhält, aber Patienten nicht so steuern kann, dass sie schnelle Hilfe zu möglichst geringen Kosten erfahren. Nicht einmal die Notfallversorgung funktioniert. Dies alles wären Themen, groß genug für eine große Koalition. Eine Verstaatlichung gehört nicht dazu, siehe Großbritannien.

Ein Kommentar von Andreas Mihm, FAZ Berlin